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Die Auseinandersetzung mit den eigenen Eltern: Der Weg zu einem freien Selbst

Caroline Winning

„Kinder brauchen Eltern, Erwachsene haben Eltern.“ Der Satz macht deutlich, wie sich die Bindungen und damit auch die Verwicklungen mit unserem Herkunftssystem im Laufe des Lebens verändern. Er erinnert uns gleichsam daran, dass es oft einen langen Weg erfordert, bis wir vom Brauchen zum Haben gelangt sind. Schließlich lösen sich die Prägungen und Verstrickungen mit unserer Herkunftsfamilie nicht so ohne weiteres auf, nur weil wir die gesetzliche Markierung von 18 Lebensjahren erreicht haben. Sich von den eigenen Eltern abzulösen, um ganz bei sich selbst anzukommen, ist ein nahezu lebenslanger Prozess – ein Prozess, der immer wieder bewusst gestaltet werden will.


Die unerschütterliche Verbindung

Unsere Eltern schenken uns das Leben. Der Satz "Ohne euch gäbe es mich gar nicht, ich verdanke euch mein Leben", gesprochen in Aufstellungen oder anderen sich den Eltern hinwendenden Ritualen sorgt auf dieselbe Weise immer wieder aufs Neue für lebensspendende Kräfte und schafft Ruhe & Ausgleich im System. Unabhängig von der Qualität der Beziehung zu unseren Eltern kommen wir um diese schlichte Tatsache letztlich nicht herum. Ohne sie gäbe es uns gar nicht.


Die Wurzeln, die uns ein Leben lang prägen: unsere Familie
Die Wurzeln, die uns ein Leben lang prägen: unsere Familie

Darüber hinaus versorgen sie uns nach unserer Geburt, wenn es gut läuft, sowohl emotional als auch materiell mit dem, was wir als Kinder brauchen, bis wir das Erwachsenenalter erreichen. Danach treten wir in eine neue Phase, gründen mitunter eigene Familien, werden selbst zu Eltern und setzen die lange Kette unserer Ahninnen & Ahnen fort. Das Brauchen wird zum Haben und damit werden wir selbst zu denjenigen, die sich fortan um unsere Bedürfnisse kümmern (müssen).

Ist unser Bedürfnissack prall gefüllt und haben wir Zuwendung, Regulation, Geborgenheit, Schutz und damit schlichtweg eine sichere Bindung erfahren, können wir im Erwachsenenalter aus dem Vollen schöpfen und uns leicht geben, was wir benötigen, um ein zufriedenes, erfülltes Leben zu erfahren. Hat sich die elterliche Zuwendung jedoch auf die funktionalen Bedürfnisse reduziert und wurde vor allem dafür gesorgt, dass Kinder ins elterliche Erwartungsschema passen, besteht im späteren Leben ein großer Mangel. Statt mit einem genährtem Sein ausgestattet, stehen wir im Erwachsenenleben mit einem prallen Sack an unbewussten Verstrickungen, frühen Verletzungen und generationalen Trauma da. Was passiert, wenn wir diese Verstrickungen nicht erkennen und lösen?


Die Last der unbewussten Loyalitäten

Auch wenn wir es nicht vorhaben, bleibt die Abhängigkeit von den Eltern  im Erwachsenenalter oft bestehen. Dies zeigt sich daran, dass wir ihnen gegenüber aus Schuldgefühlen oder Gewissensbissen handeln, unsere eigenen Bedürfnisse zurückstellen und uns von elterlichen Erwartungen & Wünschen leiten lassen. Diese unbewussten Loyalitäten üben häufig enorm viel Macht über unser Leben aus: wir wählen Beziehungspartner, die dieselben Eigenschaften wie unsere Eltern an den Tag legen, wählen Berufe, die unsere Eltern für uns vorgesehen haben oder übernehmen gar unbewusst Krankheiten, die in der Familie weitergegeben werden. Das Band der Loyalität entpuppt sich als ein armdickes Tau, welches uns stramm umwickelt hält. Es sorgt dafür, dass wir im festen Glauben, wir würden als autonome Personen handeln, unbemerkt unserer Herkunftsfamilie, während wir im Grunde uns selbst und unsere wahre Natur verlieren.

Generationales Trauma überträgt sich zudem unbemerkt auf die Folgegeneration, was dazu führt, dass sich die Folgen eines leidvollen Schicksals auch noch Jahrzehnte später zeigen können. Plötzlich ereilt uns ein Schicksalsschlag, der, wenn wir den Blick nach hinten werfen, eine Wiederholung dessen aufzeigen, was bereits unsere Oma oder Uroma erfahren hat.


Der Mangel an genährten Bedürfnissen hinterlässt tiefe Spuren. Auch wenn wir das Narbengewebe der Seele nicht sehen können: wir spüren seine Kerben & Verwerfungen als nagende Unzufriedenheit, unglückselige Beziehungserfahrungen oder sinnentleertes Dasein.


Die besondere Beziehung zwischen Mutter und Tochter

Dabei spielt die Beziehung zwischen Mutter und Tochter eine ganz besondere Rolle, immerhin bildet sie die Blaupause für das Denken, Fühlen und Handeln von Töchtern und prägt damit ihr Leben auf einschneidende Weise - im Förderlichen wie im Hinderlichen. Die Töchter kommen aus dem Weiblichen und wollen ihre eigene Weiblichkeit entfalten, was nur dann gut geht, wenn die Mutter die Einzigartigkeit der Tochter sieht und bestärkt.

Hat die Mutter in ihrer Kindheit jedoch selbst ein schweres Schicksal erfahren und es für sich nicht angeschaut, begegnet es ihr in ihrer Tochter erneut. Die noch ungelösten Konflikte und Projektionen trüben den Blick der Mutter und verhindern, dass sie ihr Kind in seiner wahren Essenz sehen kann. Claudia Haarmann bezeichnet dies als „Herzensblindheit“ und meint Mütter wie auch Väter, die statt ihr Kind mitsamt seiner Bedürfnisse ihre eigenen Ängste und ungelösten Themen in ihm wahrnehmen.


Ein besonderes Band: Mütter & Töchter
Ein besonderes Band: Mütter & Töchter

Unsere Blaupause bleibt bestehen, auch wenn uns noch so sehr vornehmen, es anders zu machen als unsere Mütter. Erst wenn wir beginnen, uns bewusst mit unserer Prägung auseinandersetzen, können wir die mitgegebene Schablone überschreiben und neue Lebensmuster entwickeln.


Die Bindungsmuster und ihre Auswirkungen

In den Bindungsmustern finden sich die verschiedenen Spielarten, die eine intakte oder gestörte Beziehung zwischen Eltern und Kind annehmen kann. Von sicher gebunden über vermeidend, ambivalent-ängstlich und desorganisiert erleben wir die ganze Palette an menschlichem Kontaktverhalten. Diese Bindungsmuster sind derart stabil, da sie in uns in Form von neuronalen Verschaltungen im Gehirn und faszialen Spannungsmustern, die sich als Netz durch unseren gesamten Körper ziehen, angelegt sind. Ihnen ist daher mit Verhaltenstraining oder angelerntem Wissen nicht beizukommen. Stattdessen braucht es körperorientierte psychotherapeutische Ansätze wie die Ego-State-Therapie, Somatic Experiencing, Grinberg, systemische Therapie oder ähnlich gelagerte Ansätze.

Unsicherheit, Irritation & Scham sind die wesentlichen Merkmale der ambivalent-ängstlichen Bindung. Eigentlich weiß das Kind nie so recht, ob es tatsächlich von der Mutetr gemeint ist oder nicht. Sieht sie wirklich das Kind oder nur ihr eigenes Schicksal, welches ihr in den Ausdrucksweisen des Kindes entgegenkommt?

Grenzmissachtung ist ein großes Thema, dringt die Mutter doch immer wieder in ihr Kind, um sich Futter für ihre eigene Bedürftigkeit zu holen oder ihre schuldbeladenen Gefühle wiedergutmachen zu wollen.

Je weniger Aufarbeitung ihrer eigenen Mutter-Kind-Beziehung stattgefunden hat, desto wahrscheinlicher ist die Verwechslung mit ihrer Tochter. So vererben sich Lebenswunden von Generation zu Generation und verhindern die Entwicklung von Sicherheit, Selbstwert und Selbstvertrauen.

Als Erwachsene beurteilen diese Menschen all ihr Tun häufig überkritisch, was die Unsicherheit nur noch mehr vertieft. Im Grunde sind sie sich nie so recht sicher in dem, was sie tun, denken & fühlen. Eine Zerreißprobe, die irgendwann im Leben zu Angststörungen, Überlastung oder Burnout führen kann, da der ständige innere Konflikt zwischen den eigenen Bedürfnissen und der Angst vor Ablehnung enormen emotionalen Druck erzeugt. Ohne bewusste Aufarbeitung bleiben diese Menschen in einem Kreislauf aus Selbstzweifeln und dem Drang, es allen recht zu machen, gefangen.


Die vermeidende Bindung macht aus kleinen Kindern im späteren Leben oft isolierte, kühl wirkende Menschen, die sich lieber auf sich selbst als auf andere verlassen. Die zähen Einzelkämpfer, die sich selbst im härtesten Schmerz noch durchbeißen, haben als Babies und Kinder die Erfahrung gemacht, auf kalte Abweisung, Ablehnung und gar Vernachlässigung zu treffen. Die Mutter war nicht in der Lage, ihnen die emotionale Zugewandtheit und Geborgenheit zu geben, die sie so dringend gebraucht hätten. Die Kinder verschließen sich daher innerlich, panzern ihre schmerzhaften Gefühle und zeigen sich im späteren Leben als besonders autonom und kopfig. Ihre ewige Frage nach Liebe bleibt unbeantwortet.

In Beziehungen wirken sie oft distanziert oder unabhängig, was Partner:innen und Freund:innen als Desinteresse oder Gefühlskälte interpretieren können. Dabei sehnen sie sich im Inneren nach Liebe und Anerkennung, wissen jedoch nicht, wie sie diese annehmen oder zeigen können. Ihre Autonomie wird zum Schutzschild, hinter dem sich eine tiefe Angst vor Zurückweisung verbirgt.


Die desorganisierte Bindung zwischen Eltern und Kindern ist oft von Chaos, Widersprüchlichkeit und fehlender Verlässlichkeit geprägt. Kinder, die eine solche Bindung erfahren, erleben ihre Eltern sowohl als Quelle von Schutz als auch von Bedrohung, was zu einem tiefen inneren Konflikt führt. Häufig sind diese Eltern selbst von unverarbeiteten Traumata belastet und reagieren unvorhersehbar – sie wechseln zwischen Nähe und Distanz, Zuwendung und Zurückweisung. Für das Kind bedeutet dies, dass es keine stabile Orientierung findet, was Sicherheit und Geborgenheit angeht. Die emotionalen Grundbedürfnisse des Kindes bleiben unbefriedigt, und es entwickelt oft Verhaltensweisen, die von extremer Anpassung bis hin zu völliger Ablehnung reichen. Diese tief verwurzelte Unsicherheit kann im Erwachsenenalter zu Schwierigkeiten in Beziehungen, einem Mangel an Selbstvertrauen und einer anhaltenden inneren Unruhe führen.


Sind wir dagegen sicher gebunden, durchzieht uns ein gesundes Selbstbewusstsein. Wir sind uns unserer Fähigkeiten und Schwächen bewusst, können gut Entscheidungen treffen, kennen und wahren unsere Grenzen und können unsere Bedürfnisse im Leben verwirklichen. Sicher gebunden bringt die Basis von Urvertrauen in sich selbst, andere und das Leben an sich mit sich. Wir stehen auf stabilem Grund in der Gewissheit, dass er uns trägt. Wir sind bindungsfähig, ohne uns in Beziehungen aufzugeben oder den anderen übermäßig im Griff oder verändern zu wollen. Wir stehen klar und deutlich für uns ein.

Eine sichere Bindung wirkt sich zudem positiv auf unsere Fähigkeit aus, mit Herausforderungen umzugehen. Sie ermöglicht uns, Konflikte konstruktiv zu lösen, Feedback anzunehmen und zugleich authentisch zu bleiben. Diese innere Stabilität gibt uns den Raum, neue Erfahrungen zu machen und uns weiterzuentwickeln, ohne von Unsicherheiten blockiert zu werden. Sie ist die Grundlage für tragfähige Beziehungen, in denen gegenseitiger Respekt, Vertrauen und echtes Miteinander gedeihen können.


Der Weg zu sich selbst

Auf rein seelisch-karmischer Ebene stellen unsere Eltern oft einen immensen Entwicklungsimpuls in unserem Leben dar. Es ist bei aller möglicherweise leidvollen Erfahrung vor allem diese Beziehung, an der wir wachsen und uns weiterentwickeln, bleibt sie doch unsere erste und längste. Ebenso dauerhaft ist der Prozess der Ent-Wicklung und Loslösung von unserem Herkunftssystem. Und doch ist er notwendig, gar unabdingbar, sich selbst zu finden und den eigenen, authentischen Weg zu gehen. Es ist ein Akt der Heilung, der die Beziehung zu unseren Eltern, aber auch die Beziehung zu uns selbst verändert. Kindliche Anteile, die noch immer im Gestern verharren, können im Hier & Heute ankommen. Eine lebensnähere Realität kann in uns Platz nehmen und uns sowohl einen versöhnlicheren wie auch vertrauensvolleren Blick auf die Welt schenken. Neuer Mut, gepaart mit natürlicher Autorität erwachsen in uns, wenn wir uns auf unseren gänzlich eigenen Weg machen und wir entdecken, wie gnadenvoll das Leben es mit uns meint.

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