Vom Tun, vom Lassen und von der Liebe
Bestandsaufnahme: ich fühle mich ermächtigt, wenn ich die Dinge in die Hand nehme. Wenn ich plane, umsetze, analysiere, bewerte - letztendlich Tätigkeiten, die meinen Geist beschäftigt halten und mir ein Gefühl von Sicherheit und Kontrolle geben. In Momenten, die ich nicht selbst beeinflussen kann, die jedoch echte Sehnsuchtsthemen betreffen, halte ich meine Ohnmacht kaum aus. Ohnmacht ist eines der stärksten Gefühle, das wir als Menschen erleben können. Es setzt bereits bei Beginn unserer Reise ein, nämlich dann, wenn wir auf die Welt kommen. Die wenigsten von uns erfahren ihre Geburt als selbstbestimmten Vorgang. Dazu bedarf es einer ungemeinen Achtsamkeit aller Beteiligten, um sicherzustellen, dass der Eintritt in unsere Welt in dem Tempo verläuft, welches jeweils zu Kind und Mutter passt. Unsere Gesellschaft im Zwang des Tuns Die Ohnmacht zwingt uns, sich dem Leben ganz zu überlassen. Sich aller Strategien, Pläne und Handreichungen zu entledigen und es stattdessen geschehen zu lassen. Nun ist es jedoch so: Geschehen MACHEN statt geschehen LASSEN hat in unserer Gesellschaft einen überaus hohen Wert. Nichts zu tun und die Dinge kommen zu lassen, erhält schnell den Anstrich von Trägheit, Dummheit oder Faulheit. Stattdessen verlangt es Macher, Strategen, Führungskräfte, Visionäre und Menschen, die anpacken. Die Frage ist nicht: wer bist du, sondern was machst du? Noch immer landen wir mit einem Fremden oftmals innerhalb der ersten fünf Minuten bei genau dieser Frage. Einfach nur warten und darauf zu vertrauen, dass sich die Dinge schon fügen, fällt immens schwer. Wem oder was sollen wir denn da vertrauen? Dem Leben, Gott, der Liebe? Was, wenn wir diese Dinge weder erfahren haben noch daran glauben? Wie dann auf sie vertrauen, all unsere Hoffnung in sie stecken? Dazu braucht es auch eine Vorstellung davon, was es meint, wenn wir vom Leben, von Gott oder der Liebe sprechen. Zudem eine Idee, wo sich diese Dinge finden lassen. In der Bibel, der Kirche, der romantischen Beziehung? Im sinnerfüllten Arbeiten, in den eigenen Kindern? Der Liebe begegnen Um Antworten auf diese Fragen zu finden, gehen einige auf Reisen, zu spirituellen Lehrern oder suchen spezielle Plätze wie ein Kloster oder Ashram auf. Diese Tatsache gibt uns einen Hinweis darauf, dass es weniger die Menschen oder Orte sind, die uns die Antwort bringen. Vielmehr kriegen wir ein erstes Gefühl für das Göttliche, für die allumfassende Liebe, wenn wir in einem bestimmten geistigen und emotionalen Zustand sind, welcher uns erst auf diese Reise geschickt hat.
Ein Zustand, in dem wir bis an die Grenzen des Erträglichen verzweifelt, ratlos oder leer sind. Erst dann können wir uns dafür öffnen, Erkenntnisse über die großen wirklichen Dinge zu empfangen. Erst im bodenlosen Dunkeln, da, wo ich keinen Halt mehr in meinen bisherigen Lösungen finde, kann ich erkennen, was Gott, was das Leben und die Liebe bedeuten. Erst dann schaue ich ihnen direkt und unvermittelt in die Augen. Dazu erfordert es keine äußere Reise. Es braucht vielmehr die innere Einkehr zu mir selbst. Wie Rilke sagte: "Es ist auch wieder das Beste im Leben, das jeder alles in sich hat: sein Schicksal, seine Zukunft, seine ganze Weite und Welt.“ In mir drin finden sich alle Antworten. In mir ist alles enthalten, was ich über Gott, die Liebe und das Leben wissen muss. Diesen reichen Schatz anzuzapfen braucht ein Herstellen von Kontakt mit der Welt, die in mir existiert. Vielleicht setze ich mich dazu auf ein Kissen und spüre in mich hinein. Oder stimme ein Gebet an. Vielleicht versenke ich mich in einen spirituellen Text und lasse ihn in mir nachwirken. Der Möglichkeiten gibt es unendliche nach innen zu gehen. Hier kann jede/r prüfen, was sich für sie oder ihn gut anfühlt und Spaß macht. Den Modus wechseln So unerträglich dramatische Emotionen manchmal sind, so hilfreich sind sie uns oft für die Begegnung mit uns selbst. Ohnmacht kann mich an den schwärzesten Punkt führen. Pure Verzweiflung kann mich überkommen. Beides bereitet meine innere Reise zu den tiefsten Wahrheiten vor. Beides öffnet das Tor zu den wirklichen Erkenntnissen. Dazu muss ich nicht viel dazu tun. Beobachten, atmen, spüren und den Gefühlen freie Bahn lassen, um sie anschließend liebevoll zu mir zu nehmen. Kein Wegschauen, kein Abklenken oder Verdrängen wäre hier das richtige Mittel. Stattdessen pure Präsenz, Aufmerksamkeit und Annahme. Erst im So-sein-lassen zeigt sich das große Wunder, welches so viele Namen und immer denselben Kern hat: den der reinen, alles gewährenden, alles hervorbringenden Liebe.
Alltag fordert uns dagegen oft zum Gegenteil auf: es muss schnell eine Lösung her, wenn das Problem naht. Etwas muss anders werden, neue Strategien sind gefragt. Wir sind hektisch im Tun, halten wir doch unangenehme Emotionen wie Ohnmacht oder Verzweiflung kaum aus. Ich bemerke zudem, dass ich an vollgepackten Tagen rascher im Machen-Modus bin und folglich am hilflosesten, wenn mich Ohnmacht oder Verzweiflung packen. Dann braucht es einen innerlichen Glockenschlag: die kräftige Erinnerung an eine Pause, um mich zu besinnen. Jetzt merke ich, wie gut es mir täte, mich meinen Gefühlen achtsam und intensiv zuzuwenden. Wenn ich es in diesem Moment schaffe, ins Beobachten und Annehmen zu kommen, ist es hinterher so, als würde das Urfunkeln der Liebe wieder sanft durch mich scheinen. Was vorher noch reinste Qual war, hat nun einem tiefen Frieden Platz gemacht. So ungefähr muss es sich anfühlen, die allumfassende Liebe, das Göttliche zu schmecken. Wie schön, dass Rilke Recht hat.
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