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Caroline Winning

Wenn unser Verstand nicht locker lässt

Alle großen spirituellen Weisheitslehren zeigen auf, wie Anhaftung zu Leid & Schmerz im Leben führt. Anhaftung - ein Vorgang zutiefst menschlicher Natur, der unser aller Leben täglich mehr oder weniger bestimmt. Er ist so durchdringender Teil unseres Seins, dass wir ihn mit seinen mitunter fatalen Konsequenzen überhaupt nicht wahrnehmen.

Anhaftung meint das mentale Festklammern an allem, was unser Verstand produziert: Vorstellungen, Erwartungen, Wissen, Überzeugungen, Konzepte. Der Vorgang geschieht meist unwillkürlich: ein Gedanke taucht auf und wir folgen seinem Gang hin zu einer vollständigen Geschichte, die oft wenig mit der Realität zu tun hat. Wie oft haben wir uns auf diese Weise schon in irrigste Interpretationen und Vermutungen verrannt? Auch Erwartungen bilden ein solch gefundenes Fressen für Anhaftung. Das merken wir spätestens immer dann, wenn sie unerfüllt bleiben und Frust & Verletzung hinterlassen. Nichts tötet die Unbeschwertheit des Seins mehr als vorgefasste Annahmen über das Leben selbst. Vorstellungen darüber, wie etwas sein oder nicht sein sollte, produzieren letztlich immer Fixation und damit einhergehend Ent-Täuschung.

Leben, anders als erwartet

Derartige innere Prozesse laufen permanent in uns ab. Wir sind voller vorgefasster Annahmen über das Leben da draußen, bewegen uns in gedanklichen Vorhaben und pflegen unsere Erwartungen, ohne uns bewusst zu machen, wie sehr wir uns dadurch vom Leben abschneiden. Denn: Anhaftung macht unglücklich. Fixierte Vorstellungen entstammen unserem linearen Geist, der geformt wurde durch kulturelle, religiöse Prägungen genauso wie aus Verhaltensweisen, die wir aus unserer Erziehung mitgenommen haben. Dadurch konstruiert unser Verstand Erwartungen, die sich aus Vergangenem speisen und projiziert sie unreflektiert in die Zukunft. Das führt gezwungenermaßen zu einer eingeengten Sicht potentieller Möglichkeiten. Wir sehen nur noch einen Weg, wo es eigentlich unendlich viele gibt. Je nachdem, wie stark wir durch Konditionierungen und Glaubensannahmen über die Welt geprägt wurden, desto größer ist unsere Anhaftung an einer bestimmten Version darüber, wie etwas zu sein hat.

Oft erlebe ich, wie sich besonders mein inneres Kind an gewisse Vorstellungen über die Welt da draußen klammert. Wenn der Partner nicht so warmherzig reagiert, wie es dies vielleicht bräuchte oder mein Ideal einer schöneren Welt unerreichbar scheint, wird es trotzig und zieht sich zurück. Für eine Weile tobt es dann in mir und badet in seinem Schmerz. Eine erste Maßnahme ist die liebevolle Zuwendung meiner inneren Erwachsenen zur Kleinen, was Balsam für die Seele ist. Dennoch bleibt oft ein nagendes Gefühl von Ungerechtigkeit. Der Kopf spult sich häufig nochmal auf, indem er sich weiterhin im Recht sieht - auch wenn das große emotionale Drama vorbei ist. Er haftet sich an seine Vorstellung von richtig und falsch - immerhin ist er der Meister der Spaltung.

In solchen Momenten führt letztlich nur die Bewusstmachung der Anhaftung aus dem Schlamassel. Ohne sie verharre ich auf meiner Version der Dinge. Das erzeugt eine Enge, aus der heraus ich reduziert bleibe auf das Erwartete und Bekannte. Mache ich mir stattdessen bewusst, dass ich gerade festhalte, öffnet sich ein Feld von Wahlmöglichkeit und Potential. Dies ist ganz wortwörtlich gemeint, da sich neben dem mentalen auch der energetische Raum vergrößert und mit ihm die dort liegenden schöpferischen Möglichkeiten. Wo es vorher nur einen Weg gab, tut sich mit einem Mal eine unergiebige Anzahl auf. Im schier unermesslichen Feld der noch ungeformten Schöpfungsenergie entscheidet unsere Aufmerksamkeit darüber, ob es wirklich nur den einen oder unzählige Pfade gibt.

Wenn Galaxien entstehen können, was ist dann alles (noch) möglich?

Die Bewusstmachung von Anhaftung gelingt am leichtesten über achtsame Atmung und vertiefte Körperwahrnehmung. Ich spüre meine Füße, atme bewusst ein und aus, spüre mein Becken, meinen Brustkorb, meinen inneren Raum. Vergegenwärtige mir die Beziehung zum äußeren Raum, die dauernd über unsere Atmung besteht. Innen wie außen, mein Körper, hier, jetzt. Es braucht keine mentale Instruktion, loszulassen. Indem wir präsent werden mit dem, was ist, geschieht es schon.

Gleichzeitig erfordert es Übung, bewusster zu werden. Erst regelmäßige Praxis und wiederkehrende Momente des Innehaltens verstärken die Instanz in uns, mit der wir unsere Fixationen wahrnehmen und beenden können. Es vergrößert sich der Abstand zwischen dem, was unser Verstand will und was das Leben gebiert. In ihm liegt die Gestaltungskraft, mit der wir unsere Reaktionen aus dem konditionierten Modus herausheben können. Jetzt haben wir die Chance, dem Impuls der Anhaftung zu widerstehen und neu auf das zu antworten, was uns begegnet. Ich kann da gleichmütig bleiben, wo ich bisher störrisch war. Ich kann versuchen, mein Interesse wach zu halten, wo ich vorher noch dicht gemacht habe. Letztendlich trete ich heraus aus einer erdachten Geschichte und erlebe die Realität des Augenblicks so wie sie ist.


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