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Caroline Winning

Wie wir aufrecht erhalten, was uns krank macht

Ken Wilber hat mal gesagt, wir befänden uns als Menschheit in unserer Entwicklung gerade mitten in der Pubertät. Als nächstes käme somit die Volljährigkeit und mit ihr der Sprung in die gänzliche Eigenverantwortung. Spätestens hier müssen wir für die getroffenen Entscheidungen in unserem Leben vollumfänglich gerade stehen, inklusiver aller Konsequenzen, die sie haben. Eine uns immer wieder herausfordernde Lebensaufgabe - sich verantwortlich zeigen für das, was ich tue oder unterlasse.


Gestern sitze ich inmitten von Leitungskräften sozialer Berufe. Sie sind neugierig auf klare, gewaltfreie Kommunikation, wollen etwas verändern am Status Quo. Es ist eine sehr herzliche, offene, selbstkritische Runde und mein Herz ist bewegt, daran Anteil zu haben. Ihr Leid ist hoch: Personalmangel und unermüdliche Fluktuation, wenig Rückhalt von Vorgesetzten, ein enormes Aufgabenpensum zusammen mit einem verantwortungsvollen, gesellschaftsprägenden Job. Sie nehmen ihn sehr ernst.


In der Betrachtung ihrer Bedürfnislandschaft wird deutlich, dass vielen von ihnen an Harmonie, Frieden im Team, einer angenehmen Arbeitsatmosphäre gelegen ist und im Ernst: wer könnte das anders wollen? Schön, wenn es läuft und sich alle verstehen.

Also wird getan, was nötig ist, um alle bei Laune zu halten: Entlastung hier, Unterstützung dort. Hilfe an dieser Stelle, Augenzudrücken an anderer. Eine der Leitungskräfte spricht plötzlich aus, was bei vielen durchklingt: sie sehe sich als Mutter der Nation. Es sei doch wichtig, für alle da zu sein. Ich füge hinzu: Möglichst immer, sobald jemand ruft. Helfen als Prinzip. Das letzte Hemd hingeben, nur damit der Laden weiter läuft. Das Ziel ist ehrenvoll: es soll bloß niemand krank abspringen und damit die dünne Personaldecke zum Einsturz bringen. Alles, was davor bewahrt - Überlastung, Konflikt, Stress - muss mit allen Mitteln vermieden werden.


Das Resultat sind Leitungskräfte, die selbst auf dem allerletzten Loch pfeifen. Angeschlagen mit körperlichen Beschwerden, Kurzatmung, der Unfähigkeit, runterzukommen, Schlaf- und Konzentrationsstörungen sitzen sie vor mir in der Runde. Sie beklagen sich über fehlende Zeit, Kolleg:innen, die ständig auf der Matte stehen, Faulenzer im Team, hinterrücks angesetzte Manöver, die ihnen das Leben schwer machen und wenig Rückhalt und Verständnis von ihren Vorgesetzten.

Dies ist ein Auszug dessen, was ich im sozialen Bereich permanent erlebe: eine/r opfert sich mit der unbedingten Motivation, es allen recht zu machen und geht dabei selbst drauf. Alle anderen um sie herum passen sich an und finden ihren Platz in einem System, das versucht, ihnen möglichst viel Stress, Druck und Entscheidungen abzunehmen. So erhalten wir aufrecht, was uns krank macht. Uns selbst und unsere sozialen Systeme.


Dabei bleibt die Eigenverantwortung auf der Strecke - die der Leitungskräfte ebenso wie die der Kolleg:innen in den Teams. Wenn die Chefin entscheidet, dass und wie es weitergeht, beschränke ich mich auf meine Mindestaufgaben und überlasse den Rest ihr. Dabei haben wir es hier gar nicht mit böser Absicht zu tun. Es ist eine unbewusste Dynamik, deren Zeugin wir werden: übernimmt jemand die Verantwortung, ziehen sich alle anderen zurück. Die Aufgabe wird ja bereits erledigt und zwar von der Person in der Nahrungskette über mir. Warum mich einbringen, im schlimmsten Fall werde ich nicht einmal dafür anerkannt - finanziell oder immateriell?

In unserer Runde ging es weiter mit einer Bitte an sich selbst: die Führungskräfte waren aufgefordert, sich Gedanken darüber machen, um was sie sich selbst bitten wollen. Andächtig lauschten wir einander: "Ich bitte mich darum, meinen Körper mehr zu beachten.", "Ich bitte mich, zum Arzt zu gehen.", "Ich bitte mich, mir einmal am Tag Zeit für mich zu nehmen." Ich war tief gerührt. Hoffnungsvoller. Habe mal wieder gespürt, wie sehr die Gewaltfreie Kommunikation helfen kann, für gesunde Verhältnisse zu sorgen, indem sie uns einlädt, Verantwortung für uns und unser Leben zu übernehmen.

Davon profitieren wir gesellschaftlich letztendlich alle. Selbstverantwortung lässt uns erkennen, wo wir über unsere Grenzen gehen. Sie zeigt auf, wie wir unsere Arbeitsplätze so gestalten wollen, dass sie Orte der Freude, Inspiration und Erfüllung werden. Sie hilft uns, in klareren, verbindenden Kontakt miteinander zu kommen.

Letztendlich ist sie der Schlüssel zu einem gesunden, ausgeglichenen und weisen Erwachsensein.

Bis dahin ist es noch ein Weg. Aber es tut so gut, Teil davon zu sein!


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